Darf man einem Trainer nach zwei Spieltagen bereits unterstellen, dass er ein Spiel vercoacht hat? Selbstverständlich darf man das! Insbesondere, wenn man sich mit dem HSV befasst, der in Folge seines beispiellosen sportlichen Niedergangs nunmehr bereits im vierten Jahr in der zweiten Liga rumtingelt und als Alleinstellungsmerkmal drei abgeschenkte Rückrunden und drei vierte Plätze nacheinander vorzuweisen hat. Zu der Symptomatik gehören auch die durchweg guten Starts in die Hinrunde und das Verweilen auf einem der Aufstiegsplätze während der ganzen Saison. Für eine seriöse Analyse des Versagens stellt sich also die Frage, wann der jeweilige Übungsleiter erstmalig Fehler macht, wie sich die Fehlerkette fortsetzt und wann eine Korrektur nicht mehr möglich ist. Und warum die HSV-Verantwortlichen jedesmal zu mutlos sind, den Trainer rechtzeitig zu entlassen.

Bei HecKing war es das Pokalspiel gegen Stuttgart und seine grundsätzliche Bocklosigkeit, bei Thioune seine Agenda zur Zwangsinklusion von Hunt, Jung und Wood und die absurden Auswechselungen. Und bei Walter? Nach einer ungewöhnlich intensiven Saisonvorbereitung hatte man den Eindruck, dass der eigenwillige Coach auf einem guten Wege ist. Körner für die Saison angefuttert, Kurzpassspiel verbessert, Pressingresistenz aufgebaut, Offensivpressing etabliert, ein mutiges Offensivspiel verordnet und mit Schonlau in der Innenverteidigung und Meffert als Sechser eine stabile Achse geschaffen. Fehlen „nur“ noch ein Spielsystem, das mit dem vorhandenen Kader machbar ist, eine sinnvolle taktische Formation, einstudierte offensive Spielzüge, gute Torabschlüsse und wie immer akzeptable Standards. Das alles müsste der neue Übungsleiter noch bis zur Rückrunde erarbeiten, also mitten in der laufenden Saison. Nun deutet sich in den Trainingseinheiten bereits an, dass das neue Trainerteam einen Gang rausnimmt und in den Modus zur Erhaltung der Körner übergeht. In einer eingespielten Mannschaft mag das der übliche Weg sein, aber beim HSV hat das Verbessern von Spielern und das Entwickeln der Mannschaft doch höchste Priorität. Hier muss Tim Walter noch beweisen, dass er diese Herausforderung meistern kann.

Kommen wir zurück auf das Thema Vercoachen. Offensichtlich hat sich Tim Walter auf bestimmten Positionen festgelegt und einigen Spielern eine Stammplatzgarantie verpasst. Aus unerfindlichen Gründen stehen Jatta, David, Glatzel und Kinsombi jedesmal in der Startelf und dürfen fast immer durchspielen, egal wie sich das Spiel entwickelt. Diese unnötige Sturheit des Trainers wirkt sich schon jetzt auf das Mannschaftsgefüge aus. Spieler wie Heyer und Kittel werden unnötig verunsichert, weil ihnen schwächere Spieler vorgezogen werden und dadurch das Leistungsprinzip mal wieder ad absurdum geführt wird. Warum zur Hölle darf ein technisch extrem limitierter Spieler wie Jatta immer wieder auflaufen und durchspielen? Wenn er Jatta unbedingt einsetzen will, soll er ihn in den letzten 15 Minuten eines Spiels bringen, um einen gegnerischen Verteidiger müde zu spielen. Warum wird dem stärkeren Heyer immer wieder der schlafmützige David vorgezogen? Wenn Walter den Youngster unbedingt fördern will, könnte er ihn mit Kurzeinsätzen schrittweise als Backup für die bestmögliche Innenverteidigung mit Schonlau und Heyer aufbauen. Warum werden die schwächelnden Kinsombi und Wintzheimer gleichzeitig auf der linken Seite eingesetzt, obwohl beide eigentlich starke Mitspieler bräuchten, an deren Seite sie sich stabilisieren könnten? Warum wird ein hochmotivierter und technisch versierter Spieler wie Reis mit Defensivaufgaben verheizt, um die eher durchwachsenen Ausflüge von Herrn Leibold auf links abzusichern oder das unkoordinierte Gefrickel von Gyamerah und Jatta auf rechts zu stabilisieren? Kein Wunder, dass Reis mit seinen Kräften früh am Ende war und kaum Gelegenheit hatte, seine kreativen Stärken in der Offensive einzubringen. Warum wechselt er zum Spielende mit Kaufmann einen zweiten Mittelstürmer ein, obwohl Glatzel draufbleibt? Warum setzt er den gelernten Innenverteidiger Rohr erst als Achter (Schalke) und dann als Sechser (Dresden) ein? Warum gönnt er dem Platzhirsch Leibold nicht mal eine Pause, wenn er zum Spielende stark nachlässt und gibt Muheim die Gelegenheit, sich als Backup-Linksverteidiger zu etablieren? Warum lässt er Kittel nicht sofort ran? Warum lässt er Suhonen ganz aus dem Spieltagskader rausrutschen? Wenn die Spieler nicht fit sind, darf man das auch gern mal kommunizieren, Herr Walter.

Für mich stehen die aufgeführten Beispiele in ihrer Gesamtheit durchaus für das Prädikat „Vercoacht“ und somit hätten wir bereits am zweiten Spieltag die Fehler von Tim Walter identifiziert, die die Keimzelle für sein späteres Scheitern sein könnten. Ich würde mir wünschen, dass sich das neue Trainerteam noch berappelt und uns eines Besseren belehrt. Auf Boldt und Mutzel kann man dabei wohl kaum zählen.

„Der HSV geht mir auf den Sack!“