Verrückte Welt: Die Saison ist gerade mal drei Spieltage alt, der HSV ist im Pokal eine Runde weiter und hat das erste von zwei Stadtderbys gegen Pauli verloren. Kein Grund zur Panik. Und trotzdem läuft die Abteilung Hofberichterstattung Amok, identifiziert die faulen Äpfel unter den Spielern, läutet den Abgesang des neuen Übungsleiters ein und nimmt sogar die beiden Witzfiguren Boldt und Mutzel ins Visier. Was ist da denn los? Medienvertreter, 24/7-Journalisten und Dauerhüpfer schlüpfen unisono in die Rolle von Fundamentalkritikern, die sich auf die Fahne geschrieben haben, den HSV-Virus zu eliminieren, die Wohlfühloase auszumerzen und das Leistungsprinzip einzufordern. Ja gut äh.

Jederman kritisiert das ungeeignete Spielsystem von Tim Walter, jeder weiß plötzlich, dass er damit schon in Stuttgart gescheitert ist und natürlich erinnert sich jeder daran, dass er bei der peinlichen 0:3 Heimpremieren-Niederlage des HSV beim geplanten „Durchmarsch durch die zweite Liga“ auf der Kieler Bank saß. Einige Taktikfüchse sezieren detailliert die technischen Unzulänglichkeiten, die taktischen Fehler und die verfehlte Kaderpolitik der sportlichen Leitung. So weit, so gut, das ist ja auch meine Passion, also willkommen im Club! Aber ihr wisst schon, dass noch schlappe 31 (von 34) Spieltage zu absolvieren sind? Und wo wir gerade dabei sind: Wo zur Hölle wart ihr in den letzten 8 Jahren, beim Rumgekrebse im Tabellenkeller, vor den beiden Relegationen, vor dem Abstieg und vor den 3 (!) abgeschenkten Wiederaufstiegsversuchen? Da habt ihr alle schön die Fresse gehalten und abgewartet, bis nichts mehr ging und dann aus sicherer Distanz eines Heckenschützen zwei Wochen lang ordentlich nachgetreten, um die Absolution des Fanviehs zu erhalten. Und danach ging das Abfeiern und Rumgehüpfe wieder von vorn los. Wozu also diese seltsame Überkompensation? Schlechtes Gewissen, oder was?

Nicht, dass man mich falsch versteht: Der sofortige Abgang von Boldt und Mutzel ist schon lange überfällig, Walter hat keinen Deut dazugelernt und wird ebenfalls scheitern, viele der Spieler sind untauglich (gemacht worden) und auch ich würde mir wünschen, dass Horst Hrubesch diesmal rechtzeitig übernimmt. Aber, Freunde der Sonne, ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass der Heimschläfer in den nächsten Wochen die Reißleine zieht und den Eierkneter und sich selbst mit einer frühzeitigen Trainer-Entlassung auf die Abschussliste setzt. Zum Glück hat der HSV ja einen kompetenten und entschlossenen Vorstandsvorsitzenden, der sich… Ups! Egal. Zum Glück hat der HSV ja einen kompetenten und handlungsfähigen Aufsichtsrat, der den verantwortlichen Sportvorstand schon… Ups! Egal.

Inmitten dieser befremdlichen Kakophonie gibt es natürlich auch zahlreiche Stimmen, die die sportliche Leitung vehement dazu auffordern, innerhalb der verbleibenden Transferperiode bis Ende August noch „frisches und geeignetes Spielermaterial“ für Harakiri-Tim heranzuholen. Und da waren sie wieder, meine drei Probleme: Boldt, Mutzel und Costa. Wir alle wissen, dass da nicht viel zu erwarten ist, dennoch bleibt uns nichts anderes übrig, als die Füße stillzuhalten, denn bis dahin werden alle Beteiligten im Amt bleiben. Wozu also die ganze Aufregung?

Wie sagte Tim Walter so schön auf hsv.de: „Gestern haben wir einen vor den Latz geknallt bekommen, jetzt müssen wir uns schütteln und weitermachen.“ Verkündete es und spendierte gleich noch zwei Tage trainingsfrei zum „Durchschnaufen“. Nun denn, ich möchte Tim Walter zurufen: So wird das nix. Ab September tickt die Uhr. Tick tack, tick tack…