Komisch, ich hatte den Begriff seit vielen Jahren nicht mehr gehört oder gelesen, obwohl ich, wie mit Sicherheit 99% von uns, nicht sorgenfrei durchs Leben gegangen bin. Doch ich habe mir Gedanken darüber gemacht, welche wohl die „normalen“ Alltagssorgen früher gewesen und welche es heute, im Jahr 2022, geworden sind. Als sogenanntes „Cold war kid“ bin ich während meiner gesamten Kindheit, Jugend und auch die Zeit des jungen Erwachsenen mit der Bedrohung durch einen nuklear geführten Weltkrieg zwischen Ost und West aufgewachsen, aber obwohl ich während der Hochphase des kalten Kriegens sogar meinen Bundeswehrdienst ableistete, war die Bedrohung doch irgendwie surreal. Na klar, beide Seiten hatten Tausende von Interkontinental-Raketen mit zig-Tausenden von Sprengköpfen, aber wer wäre so blöd und würde einen Erstschlag riskieren, wenn er wüßte, dass sein eigenes Ende maximal eine halbe Stunde später ebenfalls besiegelt wäre? Ne, die Alltagssorgen waren eigentlich andere. Wie beende ich die Schule, bekomme ich einen Studien- bzw. Ausbildungsplatz, wir sieht es mit dem Job danach aus? Eigentlich seltsam, obwohl das Damokles-Schwert der thermonukleare Vernichtung über einem schwebte, waren die sogenannten Alltagssorgen eher banaler Natur, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich mit darüber Sorgen gemacht habe, ob ich im nächsten Winter frieren würde. 

Wir ihr wisst, lebe ich mittlerweile im Süden Victorias und obwohl auch hier Dinge wie Lebensmittel und Benzin teurer geworden sind, sind die Sorgen hier andere als in Europa. Da ich, allein über die Familie, immer noch sehr intensiven Kontakt nach Deutschland pflege, entgeht mir nicht, was in den Leuten dort vor sich geht und das unterscheidet sich tatsächlich eklatant von dem, worüber ich mir früher „Sorgen machen musste“. Wir haben tatsächlich einen Krieg mitten in Europa, etwas, was ich im Jahr 2022 nicht mehr für möglich gehalten habe. Die Sorgen, dass sich dieser Krieg ausweitet, sind da und natürlich sind sie berechtigt. Wie lange wird dieser Krieg dauern? Wie wird er enden? Ist es möglich, dass sich die Energieversorgung nach einem Kriegsende wieder auf einem gewohnten Niveau etabliert oder wird es nie wieder so werden wie vor Putins Überfall auf die Ukraine? Aber das ist nicht alles, oder? Wie verlässlich ist ein EU- und NATO-Bündnispartner Türkei, der ständig damit droht, ein anderes NATO-Mitglied (Griechenland) anzugreifen? Was, wenn Erdogan die Grenzen öffnet und weitere 4 Millionen Flüchtlinge nach Westuropa drängen? Was, wenn die nächsten vorher demokratisch geführten Länder an Rechtpopulisten fallen wie in Ungarn, Italien etc.? 

Traurig interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Aussage vom SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil bzgl. des Umgangs mit Russland und Putin in der Vergangenheit: „Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten haben wir oft das Trennende übersehen. Das war ein Fehler.“ Die SPD habe nach dem Ende des Kalten Krieges geglaubt, dass die Beziehungen zu Russland einfach immer besser werden würden. „Dadurch sind blinde Flecken in unserem Umgang mit Russland entstanden. Und das hat zu Fehlern im Umgang mit Russland geführt.“ (Quelle: Stern.de) Wird man vielleicht in 3 Jahren Ähnliches über Erdogan und die Türkei sagen? Wird man sagen, es war ein Fehler, sich über einen so langen Zeitraum von einem Diktator erpressen zu lassen, anstatt ab einem bestimmten Zeitpunkt die Reißleine zu ziehen? 

Und was wird aus Covid-19? Werden wir das Virus jemals wieder los oder müssen wir lernen, damit zu leben? Und war Covid-19 erst der Anfang und die Zeit der Pandemien wird, allein bedingt durch den weltweiten Flugverkehr, kommen? Ich erinnere mich, als ich noch in Deutschland lebte, dass man in den Supermärkten plötzlich kein Toilettenpapier mehr bekam, eine Erfahrung, die ich zum ersten Mal in meinem Leben machen durfte und auf die ich gern verzichtet hätte. Ihr/Wir werden in Zukunft mit Verzicht leben müssen, eine Erfahrung, die viele von uns bisher nicht kannten. Ich habe das Gefühl, dass sich viele Dinge in den letzten Jahren verschoben haben und die meisten nicht zum Besseren. Ich habe die Befürchtung, dass Trumps „America first“ erst das Anfang von nationalen Alleingängen war und das in einer Zeit, in der Staaten eigentlich nur durch die Mitgliedschaft in einem starken Bündnis so etwas wie Sicherheit entwickeln können, besonders im Hinblick auf die Unberechenbarkeit Chinas, Englands Situation nach dem Brexit sollte doch eigentlich das beste Beispiel sein, was passiert, wenn eine Nation meint, „ihr eigenes Ding drehen zu müssen“. 

Wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, heute keine 15, 25 oder 35 sein zu müssen, vielleicht ist dies dann so etwas wie die Gnade der frühen Geburt. Ich bin froh, dass ich viele Dinge wie Ausbildung, Job, Erziehung eines Kindes etc. bereits hinter mir habe und all dies nicht in einer Zeit bewältigen muss, die von ganz anderen Alltagssorgen geprägt sind als die, die ich wuppen musste. Wenn ich darüber nachdenke – wie klein waren doch die Sorgen und Befürchtungen damals verglichen mit dem, was besonders Europa höchstwahrscheinlich bevorsteht. Und wie gesegnet bin ich, dass ich weit von all dem entfernt das Ganze aus der relativen Distanz beobachten kann.