Wir schreiben den 26. September 2023

Fünf Gründe – darum scheiterte Tim Walter

Der HSV hat sich von Trainer Tim Walter getrennt. Der Coach kam mit einer neuen Idee vom Fußball – und ist damit gescheitert. Aber es gibt noch weitere Gründe.

  1. Die Spielweise: Ständige Positionswechsel, aufrückende Abwehrspieler, viel Ballbesitz und Laufarbeit. Das von Tim Walter gepredigte System hatte Charme – weil es so niemand anderes praktiziert. Diese aufregende Variante war auch für Jonas Boldt  und Marcell Jansen eine Verlockung, als sie sich im Frühjahr mit dem gebürtigen Bruchsaler beschäftigt haben. Nur: Der Walter-Ball stieß in Hamburg schnell an seine Grenzen. Die tief stehenden Gegner hatten die Varianten schnell entschlüsselt, für überraschende Läufe fehlten schlicht die Räume. Zwar erspielte sich der HSV dennoch immer wieder Chancen, in der Hektik der Rotationen fehlte aber stets die Ruhe beim Abschluss. Tim Walter justierte immer mehr nach, von seinen eigentlichen Vorstellungen war am Ende kaum mehr etwas zu sehen. So war der HSV defensiv zwar stabiler, konnte seine Überlegenheit und den hohen Ballbesitzanteil aber nur selten in klare Siege ummünzen. Begeisternde Spiele, wie sie vorausgesagt worden waren, blieben nahezu komplett aus, die sportliche Führung sah zuletzt keine klare Linie mehr in den HSV-Auftritten.
  2. Der Umgang mit den Spielern: Walters Fußball verlangt volle Identifikation. Nur wer dem Coach bedingungslos folgt und vertraut, geht auf dem Platz auf Anweisung des Trainers ins Risiko, verlässt ständig seine Position und macht Dinge, die er bislang für unmöglich hielt. Zu Beginn der Saison hat sich die Mannschaft komplett darauf eingelassen. Doch das Vertrauen bröckelte, als die Erfolge nur noch unregelmäßig zustande kamen. Dazu sind auch Walters Umgangsformen mit seinen Spielern gewöhnungsbedürftig. Der Coach ist geradeheraus, schroff und schießt verbal auch mal übers Ziel hinaus. Auch derbe Worte sind ihm nicht fremd. Danach gibt er sich als väterlicher Freund, nimmt seine „Jungs“ versöhnlich in den Arm und betonte auch immer wieder: „Ich kritisiere meine Spieler nur als Fußballer, nie als Menschen.“ Viele Spieler sprachen sich zuletzt noch für den Coach aus. Am Ende kompensierte Walters zweite Seite aber nicht mehr bei allen die erste.
  3. Die Außendarstellung: „Wer mich holt, weiß, was er bekommt“, hatte Tim Walter schon früh betont – und das nicht nur auf seine Art des Fußballs bezogen. Auch bei öffentlichen Auftritten war der Coach offensiv und unkonventionell unterwegs, widersprach auch mal seinen Vorgesetzten oder kritisierte einzelne Spieler direkt. Das grenzte immer wieder an Großmäuligkeit oder gar Arroganz („Uns stellt keiner ein Bein“). Der Verein war stets bemüht, den Coach in der Spur zu halten, stieß dabei aber an Grenzen. Und so hatte, was bei Jugendteams, zweiten Mannschaften oder kleineren Clubs wie Holstein Kiel noch unterging in der Öffentlichkeit, in Hamburg ein viel größeres Echo. Das bis zu einem gewissen Punkt zu ertragen waren die Strategen an der Sylvesterallee grundsätzlich bereit – wenn auf der anderen Seite der Waagschale der sportliche Erfolg und eine aufregende Spielweise liegen. Am Ende waren in Bezug auf beide Seiten die Zweifel zu groß.
  4. Die fehlende Konstanz: Jonas Boldt war sich sicher, dem Trainer einen Kader zur Verfügung gestellt zu haben, der das Ziel Klassenerhalt sicher erreichen kann. Rückschläge waren zwar eingeplant, eine Serie aus sieben Spielen mit fünf Niederlagen dagegen nicht. Sie geschah aber im Sommer dieses Jahres. Danach ruckelte es weiter, vor allem auswärts. Tim Walter tüftelte immer wieder an seiner Mannschaft herum, vertraute Spielern voll, entzog ihnen dann irgendwann aber doch das Vertrauen, schmiss sie danach wieder in den Ring. So hatten zunächst zwar alle Profis das Gefühl, mittendrin zu sein. Ein stabiles Gebilde entstand aber nie, nur auf ganz wenigen Positionen herrschte Kontinuität, am Ende vollzog der Coach sogar auf der Torhüterposition einen Wechsel – ohne ersichtlichen Grund. Dabei funktioniert Walters Idee vom Fußball nur über Automatismen. Dass ein gut funktionierendes Kollektiv wie SV Darmstadt im Laufe der Hinrunde einen klaren Rückstand auf den HSV in einen komfortablen Vorsprung verwandelt hatte, führte den Hamburgern vor Augen, dass das Potenzial des eigenen Kaders nie wirklich ausgeschöpft wurde. Kein Spieler erreichte über einen längeren Zeitraum Normalform, schöpfte seine Möglichkeiten voll aus oder machte gar einen Leistungssprung. Die mangelhafte Chancenverwertung bekam Walter nie in den Griff.
  5. Der komplette Neustart: Am Ende waren es dann wohl doch ein bisschen zu viel Experimente – und das ist noch nicht einmal die Schuld des Trainers und seinen taktischen und personellen Versuchen. Ein unerfahrener Sportvorstand (der mittlerweile Vorstandsvorsitzender ist), ein im Verein noch neuer Sportdirektor, ein neuer Trainer, der noch nie an einem viel beachteten und im Profibereich höchsten Ansprüchen verpflichteten Standort gearbeitet hat. Dazu eine Mannschaft, die nahezu komplett neu zusammengestellt wurde – und dann auch noch eine Spielweise, die – bis auf den Ex-Ingolstädter Sonny Kittel – kein einziger Profi je umgesetzt hatte. Das verbunden mit dem klaren Ziel, nach einem Jahr in Liga eins bleiben zu können, überlud das System HSV – nun kam es zur Überlastungsreaktion.

Klingt vertraut? Klar, ist ja auch im Original nicht von mir, sondern von der Stuttgarter Zeitung (https://www.stuttgarter-zeitung.de/gallery.aus-fuer-den-trainer-beim-vfb-stuttgart-fuenf-gruende-darum-scheiterte-tim-walter.a43738fd-7dd0-4a22-8d3b-96b31bf170f9.html). Erstaunlich sind die Parallelen der Zeiten in Stuttgart und Hamburg, insofern würde es nicht verwundern, wenn es genauso kommen würde. Besonders vor diesem Hintergrund sollte sich der Aufsichtsrat eine Vertragsverlägerung mit dem Bartfick gründlich überlegen, zumal dieser nun auch noch anfängt, Forderungen zu stellen.