Der Hamburger Sportverein hat ein Problem und dieses Problem ist meiner Auffassung nach wesentlich größer als das akute sportliche Problem rund um Abstieg, Erstliga-Zugehörigkeit oder finanzielle Schieflage, obwohl am Ende des Tages alles miteinander zusammenhängt.

Der HSV ist dabei, seine Fans zu verlieren, der HSV ist dabei, in einer Art emotionaler Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Sport ist Emotion und Fußball ist wohl eine der emotionalsten Sportarten überhaupt. Bei kaum einer anderen Sportart kann der eigene Verein derart zu einer Art Religion ausarten (Schalke vs. Dortmund), nirgendwo sonst werden Athleten zu Volkshelden oder im Umkehrschluss zum Verantwortlichen für den Untergang des Abendlandes. Fußball lässt Erwachsene zu Kleinkindern und Professoren zu Hooligans werden. Warum? Weil der Fußball in der Lage ist, ungeahnte Emotionen freizusetzen. Es ist irrational, kaum zu erklären, aber es ist da.

„Dies ist mein Verein bis in den Tod. Wer meinen Verein beleidigt, beleidigt meine Familie“.

Diese Emotionen sind unabdingbar und man kann besonders in der Werbung beobachten, dass es kaum mehr ein anderes Ziel gibt, als ein Produkt (und Fußball und auch der HSV sind ein Produkt) zu emotionalisieren. So sind beispielsweise Autos ein hoch-emotionales Produkt, deutsche Markenbutter eher weniger. Supermarkt-Ketten (EDEKA) investieren Millionen und Aber-Millionen, um ihre Marke zu emotionalisieren („Wir lieben Lebensmittel“), selbst Bausparkassen versuchen sich mithilfe von emotions-gesteuerten Kampagnen („Ich will auch Spießer werden“), von der Konkurrenz abzugrenzen.

Dabei müssen die Emotionen, die ein Produkt auslösen, nicht nur bzw. ausschließlich positiver Natur sein. Die BILD beispielsweise hat ein ausgesprochen mieses Image, es gibt kaum jemanden, der das Blatt mag. Aber die BILD emotionalisiert, polarisiert, man spricht über sie. Das Schlimmste, was der BILD passieren könnte, wäre der Fall, wenn man sich nicht mehr über sie aufregen würde, wenn sie in der emotionalen Bedeutungslosigkeit versinkt. Dann lieber ein Schweine-Image, als gar kein Image.

Der HSV ist nun auf dem besten Wege, nicht mehr in der Lage zu sein, Emotionen auszulösen und das wäre nicht nur eine finanzielle Katastrophe. Werbepartner, Sponsoren, Investoren, sie alle hängen sich an den Verein, werben mit dem Verein, weil er in ihren Augen ein bestimmtes Image verkörpert. Das könnte sogar das Image des sympathischen Losers sein, aber Hauptsache, man hat noch eines. Wenn aber ein Verein als Werbeträger nicht mehr nachweisen kann, für welches Image und dann für welche Art Emotion er steht, gibt es keinen Grund mehr, zusammen mit ihm zu werben.

„Ich habe keine Lust mehr, über diesen Verein zu reden. Ich ärgere mich nicht mal mehr. Ich habe in dieser Saison noch eine Dauerkarte, aber es wird die letzte nach 9 Jahren sein. Keinen Bock mehr…“

Vor wenigen Tagen erst erzählte mir jemand in genau diesen Worten von seinen nicht mehr vorhandenen Emotionen und es war jemand, bei dem ich Jahrzehnte lang die feste Gewissheit hatte, dass man ihn irgendwann einmal mit Herzinfarkt aus der Arena tragen würde. Die Luft ist raus und auch hier, wie an vielen anderen Fronten, schläft der Verein nach wie vor den Schlaf des Gerechten. Dabei konnte man doch registrieren, dass man die emotionalsten Fans (CFHH etc.) bereits verloren hatte. Mag man die Gesänge, die Choreos und so weiter auch vielleicht nicht mögen oder sogar überflüssig finden, sie waren zumindest da. Natürlich sind Sitzblockaden und „Vorstand raus-Rufe“ nicht unbedingt das probateste Mittel, um seine Ideen durchzusetzen, aber zumindest wurde irgendetwas gemacht.

Was aber machte der Verein, um diese Jungs zurückzuholen, um die vorhandenen Gräben zuzuschütten? Beiersdorfer führte am Anfang der Saison ein Gespräch, holte sich eine (vorläufige) Abfuhr und das war’s. „Vorstand Fans und Gräben“, Carl-Edgar Jarchow, schrieb einen niedlichen Brief und meldete sich anschließend nicht mehr. Offenbar war man seitens der Vereinsführung der Meinung, man könnte in den Zeiten der AG auf diese Fans verzichten. Vielleicht war man sogar ganz froh, diese Art Anhänger endlich losgeworden zu sein.

Heute sind die Zuschauer doch nicht mal mehr bereit, nach der nächsten Minusleistung zu pfeifen. Man geht schweigend und kopfschüttelnd aus dem Stadion, was soll’s, ist halt ein Scheiß-Verein…

Das letzte Mal, dass der HSV seine Mitglieder emotionalisieren konnte, war während der Wahlkampfphase zum Thema HSVPLUS und Ausgliederung, aber auch dort emotionalisierte nicht der Verein selbst, sondern die Initiative HSVPLUS. Dort wurde gestritten, beleidigt, unterstellt und gefightet. Heute tendieren die Beteiligungen an Diskussionen und die Anzahl der Kommentare in Foren, Blogs oder bei Facebook gen Null, denn nicht mal mehr die letzten Leidenschaftlichen haben Lust, sich zum Verein zu äußern. Auch bei ihnen hat sich eine Leere breitgemacht, eine Nicht-Beschäftigung mit dem Verein erfüllt den Zweck des Selbstschutzes.

„Es tut mir nicht gut, mich mit dem Verein zu beschäftigen. Ich werde das nicht mehr zu sich an mich rankommen lassen, andere Dinge sind mir jetzt wichtiger…“

Der Verein verliert seine Kinder und er bekommt sie nicht zurück. Während noch in den 70er, 80er und 90er-Jahren der hiesige Fußballverein relativ allein auf weiter Flur stand, was die Möglichkeit zu einer emotionalen Bindung betrifft, sind im Jahr 2015 die Möglichkeiten, seine Freizeit sinnvoll zu verbringen, weitaus vielfältiger angeordnet. Junge Menschen brauchen heute keine Club mehr, um sich wohl zu fühlen.

Wenn ich als Verein nicht ständig daran arbeite, die Emotionen am Kochen zu halten, werde ich uninteressant und austauschbar und genau hier hat der HSV wieder einmal kolossal gepennt. In seiner überragenden Arroganz war der Verein respektive seine Kommunikations-Abteilung der Meinung, das man sowas nicht benötigen würde, heute wird es Millionen kosten, den Verein wieder auf ein stabiles emotionales Level zu heben, wenn es denn überhaupt noch möglich ist. Beim HSV aber stellt man lieber den nächsten Direktor ein, der sich mit interner Kommunikation beschäftigt, was interessiert uns schon, wie uns die Leute draußen wahrnehmen.

„Stell dir vor, der HSV steigt ab und keinen interessiert’s…“

Aktuell würde ich meinen, dass exakt dieser Weg vorgezeichnet ist und die Verantwortlichen sitzen immer noch auf ihren Plätzen und bekommen einen Vertrag bis 2018 verlängert. Es werden Agenturen für jeden Scheiß beauftragt, aber den emotionalen Abgang seiner Fans hat der HSV verpennt.

Aber wer weiß, vielleicht wäre das ja das bestmögliche Image.

Hamburger Schlaf Verein.