Liebe Leser,

der geschätzte Kollege Jovanov hatte am Mittwoch endlich einmal die Gelegenheit zu einem ausführlichen Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden Dietmar Beiersdorfer. Dieses Interview erscheint heute bei goal.com

http://www.goal.com/de/news/3643/exklusiv/2015/10/30/16804942/hsv-boss-beiersdorfer-wir-brauchen-uns-nicht-zu-verstecken?ICID=HP_BN_10

so, wie es als Interview nun mal auszusehen hat und wir alle wissen, dass ein Journalist nicht immer so kann, wie er gern möchte. Dennoch offenbart selbst diese redigierte Fassung einige Wahrheiten, die mich selbst mehr als 1 1/2 Jahre nach der friedlichen Revolution durch HSVPlus noch immer fassungslos zurücklassen. Diese Form der Arroganz gegenüber denjenigen, die ihnen ins Amt und damit zu Millionengehältern verholfen haben, ist für mich nach wie vor absolut unerträglich.

Ich möchte (noch einmal) die für mich wesentlichen Kernaussagen des Programms von HSVPlus aufführen, weil es einfach wichtig ist. Man stelle sich einmal vor, eine Bundespartei führt einen einjährigen Wahlkampf, gewinnt die Bundestagswahl und darf somit den Bundeskanzler und die Regierung stellen. Am Tag seiner Vereidigung fragt dann der neue Kanzler, wie denn eigentlich das Programm seiner Partei aussehen würde und nach Durchsicht der Papiere gibt er bekannt, dass das ja alles sehr schön aufgeschrieben wäre, in der Praxis aber keineswegs umzusetzen sei. Von einem solchen Kanzler würde ich den sofortigen Rücktritt erwarten, von den Parteien eine unmittelbare Wiederholung der Wahl. Ich behaupte heute, dass, würde man die Abstimmung pro oder contra HSVPlus heute wiederholen, die Initiative keine 50% der Stimmen bekommen und kläglich scheitern würde. So aber haben wir den Vorstand und den Aufsichtsrat, der durch die Stimmenmehrheit der Mitglieder an die Spitze des Vereins geführt wurde und vom Moment ihrer Inthronisierung interessiert es die Herren einen Dreck, wie das Programm aussah und wofür die Wähler gestimmt haben.

  • Ausgliederung der Profiabteilung in eine AG
  • Verkleinerung des Aufsichtsrats auf 6 Personen
  • Entschuldung des Vereins
  • Findung und Einbindung von strategischen Partner und damit verbunden der Verkauf von Anteilen an der Fußball AG
  • Reduzierung der laufenden Kosten
  • Verjüngung des Spielerkaders, Erwerb von jungen Talenten zwecks Förderung. Keine teuren Altstars mehr.
  • Findung einer neuen Vereins-Philosophie

Goal: Aufgrund der schlechten Entwicklung der vergangenen Jahre haben über 8000 Mitglieder des HSV im Mai 2014 für eine grundlegende Reform ihres Klubs gestimmt und verzichten dafür weitestgehend auf ihre Mitbestimmungsrechte. Fühlen Sie sich dem Wahlauftrag der Initiative HSVPlus eigentlich verpflichtet?

Beiersdorfer: „Was war denn der Wahlauftrag?“

Neustrukturierung der gesamten Organisation, sportliche und wirtschaftliche Konsolidierung, die Förderung von jungen Talenten statt der Verpflichtung teurer Stars …

Beiersdorfer: Es ist schön und es freut mich, dass die Protagonisten der Initiative das gesagt und versprochen haben. Man muss aber sehen, was davon umsetzbar ist. Wenn wir von eigener Nachwuchsentwicklung sprechen, geht es um einen Zirkel von sechs, sieben Jahren. Man kann nicht erwarten, dass nach einem halben Jahr nur noch 18- oder 19-jährige Spieler aus Hamburg und der Region bei uns spielen.“

Jetzt kann jeder für sich entscheiden, welche dieser Punkte in den letzten 1 1/2 Jahren umgesetzt und welche mit Füßen getreten wurden. Und es nicht so, dass die Nicht-Erfüllung der Versprechungen mit Erklärungen entschuldigt werden. Es ist einfach so, dass die heutigen Machthaber diese elementaren Punkte ignorieren bzw. für Mumpitz erachten. An dieser Stelle sollte sich jeder der damals knapp 8.000 anwesenden und mit Ja-stimmenden Mitglieder einmal fragen:

Habe ich eigentlich HSVPlus und die damit verbundene Idee gewählt oder habe ich damals Beierdorfer, Hilke, Wettstein, Gernandt und Co. gewählt?

Nicht einer dieser Herren hätte heute ein (überaus hochbezahltes) Amt beim Verein ohne HSVPlus, aber das haben sie scheinbar vergessen. Sie haben auch all diejenigen vergessen, die ihnen zu den Ämtern verholfen haben. Sie haben sich eingerichtet und leben nun in ihrer Wohlfühloase. Unkontrolliert vom gefügigen Aufsichtsrat, fern von allen HSVPlus-Werten. Sie hieven ihre Buddies in teure Ämter, blähen den Verwaltungsapparat immer weiter auf, verschulden den Verein anstatt ihn zu entschulden und kaufen ein Auslaufmodell nach dem nächsten. Das wird dann natürlich mit dem Modewort „Stabilität“ erklärt, aber diese Stabilität wird nicht erreicht. Im ersten Jahr Beiersdorfer gelangt es trotz einer Transferanstrengung von mehr als € 30 Mio. nicht nur den besten Spieler zu verramschen, man erreichte wieder die Relegation. Halleluja.

Beiersdorfer: „Im letzten Jahr gehörten wir gemessen an der Spielkultur zu den schlechtesten Teams der Liga, das müssen wir zugeben….“

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Nachdem man zu Saisonbeginn für insgesamt € 35,9 Mio. eingekauft hatte (http://www.transfermarkt.de/hamburger-sv/alletransfers/verein/41), spielte man nach Ansicht des Chefs den schlechtesten Fußball der Liga.

Im zweiten Jahr Beiersdorfer wurde wiederum der beste Spieler (Tah) verkloppt, mit Behrami musste Didi’s Königstransfer des ersten Jahres schon wieder gehen. Aktuell stehen mit Müller, Ostrzolek, Stieber, Cleber, Diaz, Olic und auch Lasogga diverse Spieler bereits wieder auf der Verkaufsliste, die unter „Dukaten-Didi“ erst zum Verein kamen? Ist das Stabilität? Ich nenne das Ahnungslosigkeit und aktive Geldverbrennung, die aber leider von einem Aufsichtsrat gedeckelt wird.

Der gemeine Fan sitzt zu Hause auf der Couch und freut sich über vermeindliche „Ruhe im Verein“, verwechselt diese aber mit Handlungs-Unfähigkeit. In den letzten Jahren konnte ein verschuldeter HSV seine Gehälter und Transfers nur deshalb bezahlen, weil man „außerordentliche Einnahmen“ verbuchen konnte. Da waren die Transfers von Calhanoglu und Tah (davor Son), da war der Verkauf des Stadionnamens, die Verlängerung der Verträge mit adidas, jetzt Emirates.

Wovon möchte ein Verein, dessen Geschäftsstelle immer größer statt kleiner wird, dessen Kader jetzt wieder auf dem Gehaltsniveau der Jarchow-Zeit angekommen ist (und da war er schon zu teuer), der keinen Spieler mit großem Transferwert mehr hat, wovon möchte dieser Verein in Zukunft seine Rechnungen begleichen?

Herr Beiersdorfer fabuliert davon, dass man weitere Anteile verkaufen würde, aber an wen? In den letzten 1 1/2 Jahren ist es gerade einmal gelungen, einem offensichtlich zu wohlhabenden Agrar-Bauern ein Prozent anzudrehen, ein interessierter Herr Magaritoff ist scheinbar wieder abgesprungen. Also? An wen, Herr Beiersdorfer?

Beiersdorfer: „Ich habe zu Beginn meiner Amtszeit deutlich gemacht, dass wir sowohl sportlich als auch wirtschaftlich ein Sanierungsfall sind. Zur Stabilisierung unserer wirtschaftlichen Lage gehe ich von weiteren Anteilsverkäufen aus….“

Herr Beiersdorfer hat auf all diese Fragen keine Antworten, er beantwortet mit dem Totschlag-Argument „Geduld“. Man hat nach 1 1/2 Jahren immer noch kein neues Leitbild, aber „man arbeite daran„. Man hat immer noch keinen strategischen Partner, aber „man arbeitet daran“. Man hat immer noch kein gängiges Nachwuchsprogramm, aber „man hat Prozesse angeschoben“.

Goal: Und wofür soll der HSV stehen?

Beiersdorfer: „Das kann erst nach der Fertigstellung kommuniziert werden.“

1 1/2 Jahre später – Nichts. Nicht zu vermelden. Als wäre das alles ein mystisches Hexenwerk.

Nach einem halben Jahr Amtszeit hätte ich diese Erklärungen gelten lassen, nach 1 1/2 Jahren klingen sie für mich wie Zeitspiel und Planlosigkeit. Wer mehr verdient als andere Leute in vergleichbaren Positionen, der muss auch mehr können und mehr leisten. Beiersdorfer kann das nicht, Hilke kann das schon gar nicht. Eigentlich müssten sie ihren Wählern (HSVPlus-Wählern) einleuchtende Erklärungen abliefern können, Zwischen-Erfolge vermelden können, irgendwas Sichtbares zeigen können. Können sie nicht und wollen sie auch nicht, weil es ihnen schlichtweg egal ist, was die Mitglieder denken.

Goal: Zum Thema Nachwuchsförderung wurde im Zuge der Strukturveränderung Thomas von Heesen als Aufsichtsrat präsentiert. Ein halbes Jahr später trat er zurück. Ist damit das von ihm angeschobene Projekt, junge Talente heranzuholen, auf Eis gelegt?

Beiersdorfer: „Ja. Aufgrund seiner Trainertätigkeit in Polen gibt es mit Thomas von Heesen darüber zur Zeit keinen weiteren Austausch.“

Schade, oder? Genau damit wurde doch vom neuen Aufsichtsrat und der AG so vehement geworben. Der Talent-Seher von Heesen. Nach nur einem 3/4 Jahr nicht mehr im AR und jetzt nicht mehr für den HSV zuständig. Klasse.

Was ist mit dem Campus? Der Baubeginn verzögert sich und verzögert sich und gibt es eine Erklärung? Nichts gibt es. Wie und wovon will der Verein in zwei Jahren seinen Mitgliedern mehr als € 17,5 Mio. zurückzahlen?

„Ach, das wird schon irgendwie gehen, ist ja noch lange hin“. Und außerdem ist es ja nicht das Geld der Herren Vorstände und Aufsichtsräte, oder? Wenn der Schnee schmilzt, kommt die Scheiße darunter zum Vorschein. Spätestens 2017 schmilzt der Schnee und dann werde ich einige derjenigen, die heute nach „Geduld“ schreien und „Pester“ brüllen, an den heutigen Tag erinnern.

Goal: Sind Feindbilder ein Bestandteil dieses Leitbildes? Auf Facebook gab der HSV für das Spiel gegen Leverkusen das Motto „Kommt ihr uns mal nach Hause“ aus. Die digitale Hetzjagd auf zwei ehemalige Spieler war somit von offizieller Seite eröffnet worden.

Beiersdorfer: „Nein, wobei man die beiden Fälle nicht miteinander vergleichen kann. Jonathan Tah wollte nicht mehr für uns spielen. Wir sahen uns dann gezwungen, ihn zu verkaufen. Beim anderen Fall geht es um eine fragwürdige Krankschreibung. Ich habe das Gefühl, dass unsere Fans ein gutes Gespür haben. Dass Hakan Calhanoglu ausgepfiffen wird, war aufgrund der Vorgeschichte nicht anders zu erwarten. Ich will nicht päpstlicher als der Papst klingen, aber er hat einen Beitrag geleistet, dass die Fans so auf ihn reagieren. Natürlich soll im Stadion niemand verletzt werden, das steht außer Frage. Pfiffe mussten wir aber alle schon aushalten.“

Nachdem man von Vereinsseite via Facebook die Jagd auf einen 21-Jährigen eröffnet hatte, hat dieser jetzt also nach Ansicht eines Vorstandsvorsitzenden selbst Schuld. Wäre ich Verantwortlicher eines anderen Vereins, würde ich mir in Zukunft 12 mal überlegen, ob ich einen meiner Spieler nach Hamburg verleihe, wenn es dem Boss nicht möglich ist, sich von solchen Vorkommnissen deutlich zu distanzieren.