Vor einigen Tagen stellte die NDR-Journalistin Britta Kehrhahn während einer Pressekonferenz eine, aus meiner Sicht mehr als berechtigte Frage an Cheftrainer Gisdol, sie fragte den Übungsleiter, ob er angesichts der letzten Erfolge seiner Mannschaft eventuell einen Spannungsabfall befürchten würde. Der ansonsten zumeist beherrschte und kontrollierte Coach flippte daraufhin beinahe aus und wurde ausgesprochen unhöflich. Warum? Nun, diese Frage ist leicht zu beantworten, denn Britta traf mit ihrer Frage exakt ins Schwarze. Es ist genau das, was Gisdol befürchtet und das gestrigen Spiel gegen Werder Bremen bestätigte, dass diese Befürchtung zu Recht besteht. Denn während der HSV in Spielen gegen Hertha, Gladbach, Hoffenheim und Leipzig deshalb Punkte holte, weil er den Gegnern den Schneid abkaufte und mit dem zerstörerischen Spiel jegliche Spielkultur des Gegners eliminierte, fehlte gestern all das, was die Mannschaft in den letzten Wochen stark gemacht hatte.

Keine Körperspannung, keine Einstellung zu Spiel und Gegner. Besonders dramatisch natürlich deshalb, weil es sich bei Spielen gegen den Erz-Rivalen aus Bremen immer um prestigeträchtige Derbys handelt, weil man mit einem Sieg in Bremen nicht nur sich selbst abgesichert, sondern die Bremer im Abstiegsrennen gehalten hätte. All dies ist nun Geschichte, man ist wieder voll in einer Verlosung, bei der einige Spieler wohl bereits gedacht hatten, man hätte sie verlassen. Aber das Problem wird noch größer, denn während die Konkurrenten Augsburg, Mainz, Wolfsburg und sogar Ingolstadt ihre „Spannungs-Delle“ überwunden haben könnten, befindet sich der HSV in einer gegenläufigen Bewegung.

Vor einigen Wochen hatte ich geschrieben, dass ich nicht glaube, dass sowohl das Spielglück des HSV, aber auch das nicht vorhandene Verletzungspech bis zum Saisonende anhält und nun kommt es genau so. Mit Adler, Müller, Ekdal, Wood, Djourou fehlen Leistungsträger bzw. Spieler, die als erste Alternative gelten. Andere Spieler wie Jung, Papadopoulos, Mavraj etc. sind zum Ende der Saison chronisch anfällig, so dass Gisdol ständig umbauen muss. Psychisch bedeuten diese Ausfälle natürlich eine weitere Schwächung, denn jeder Spieler weiß, dass man automatisch an Qualität verliert, wenn Spieler wie Adler und Müller langfristig wegbrechen.

Nun aber ist es soweit und das oft zitierte Momentum könnte sich genau in der ungünstigsten Phase der Saison gegen den HSV wenden. Vor diesem Hintergrund ist das häufig erwähnte Argument, man würde in den letzten Spielen fast ausschließlich gegen Mitkonkurrenten Spielen, ein Boomerang, denn das, was für den HSV gilt, gilt eben für diese Mitkonkurrenten auch und wenn der HSV ein Problem hat, dann das Spiel gegen Mannschaften machen zu müssen, die eben nicht über die Spielkultur von Gladbach, Hoffenheim oder Mainz verfügen, sondern die ebenso auf Zerstörung aus sind, wie die Hamburger selbst. Wenn nun aber in Hamburg die Angst, in Augsburg, Mainz, Ingolstadt und Wolfsburg die Hoffnung zurückkehrt, kann sich jeder ausmalen, was passiert.

Hinzu kommt, dass man nach dem nächsten Spieltag vielleicht nicht nur über die Möglichkeit der Relegation redet, sondern über den direkten Abstieg als 17. Sollte Ingolstadt das Heimspiel gegen Werder gewinnen und der HSV sich von Darmstadt niederrennen lassen, wären es noch zwei Punkte zum Vorletzten und anschließend geht es nach Augsburg. Wie aber begegnet man diesem Spannungsabfall? Maßnahmen wie kurzfristige Trainingslager, Teambuilding etc. sind zu diesem Zeitpunkt der Saison nicht mehr machbar, die allerletzte Maßnahme, einen Trainerwechsel, hat der HSV bereits vollzogen.

Wie verzweifelt man in Hamburg mittlerweile (wieder) ist, zeigt die lächerliche Maßnahme, einen spielunfähigen Akteur wie Bobby Wood in den Kader zu berufen. Jeder wusste, dass der US-Amerikaner nicht würde spielen können, aber Gisdol versuchte die Blendgranate, um die Bremer zu irritieren. Ein Schuss, der definitiv nach hinten losging.

Ach ja, die letzte Hoffnung soll nun die Rückkehr der angeschlagenen oder verletzten Spieler sein. Wer das glaubt, hat kein Spiel des HSV in dieser Saison gesehen, denn diese Mannschaft hat zu keinem Zeitpunkt von der individuellen Klasse eines einzelnen Spielers gelebt, sondern von der Mentalität der Gemeinschaft. Sollte diese Mentalität abhanden gekommen sein, nützt auch die Rückkehr eines Bobby Wood nichts.

Man kann es drehen und wenden, wie man möchte – der HSV muss das Heimspiel gegen Darmstadt gewinnen und selbst dann ist noch nichts gerettet. Verliert man allerdings oder spielt vielleicht unentschieden, dreht sich die Abwärtsspirale schneller und schneller, das Momentum wendet sich gegen den HSV. Die Angst würde stärker denn je zurückkehren und nichts lähmt mehr als die Angst vorm Versagen. Und ob die bisher überragenden Fans, nach der Schmach von Bremen,  ein Versagen gegen den Absteiger aus Darmstadt verzeihen würden, ist äußerst fraglich.

Die Angst ist zurück in der Millionentruppe und Grinser Gisdol wirkt mindestens genauso nervös wie die rosa Hüpfer, die von zwei Spieltagen noch von Europa laberten, diese Vollpfosten.

P.S. Die Aktion der Bremer „Fans“ vor dem Spiel, als Steine und Farbbeuteln auf den HSV-Bus geworfen wurden, ist vor dem Hintergrund des Dortmunder Anschlags vom Dienstag gar nicht mit Worten zu beschreiben. Was für eine Schande für den Fußball.