Sollen wir heute mal ein Tabu brechen? Sollen wir in einem HSV-Blog über den FC St. Pauli schreiben? Na klar sollen wir, außerdem – wer will es mir verbieten? Schade dabei ist nur, dass der Anlass ein trauriger ist, denn das, was aus meiner Sicht als langjähriger HSV-Fan einmal den Stadtrivalen ausgemacht hat,  verschwindet mehr und mehr. St. Pauli ist nicht mehr der „etwas andere Verein“, er wurde und wird im Laufe der Zeit zu einem dieser ganz normalen Vereine, bei denen Eitelkeit und Kommerz in den Vordergrund drängen und die Menschlichkeit, auf die man am Millerntor immer und zu recht stolz war, nach und nach verschwindet. Grund für diesen Blog ist die gestern vollzogene Entlassung von Cheftrainer Markus Kauczinski und Sportdirektor Uwe Stöver, für die ich keinerlei Verständnis aufbringe. Warum?

Aktuell belegt St. Pauli den 6. Tabellenplatz in der zweiten Bundesliga und könnte mit einem Heimsieg gegen Arminia Bielefeld bis auf 4 Punkte an den HSV heranrücken. In dieser Situation entlässt man Trainer und Sportchef? Will man mir ernsthaft erklären, dass St. Pauli in die Saison mit dem Ziel Aufstieg in die Bundesliga gegangen ist? Will man mir wirklich erzählen, dass man versucht, mit dieser Entscheidung die Saisonziele doch noch zu erreichen? Sorry, aber in 1000 Jahren nicht. Aus meiner Sicht spielt der FC eine, für ihre Verhältnisse, wirklich gute Saison und bei dem FC. St. Pauli, den ich in Erinnerung habe, wäre eine solche Aktion früher undenkbar gewesen. Aber okay, früher hätte man sich auf dem Kiez auch keine Ausrüster wie Under Amour ins Haus geholt, der für seine Nähe zur amerikanischen Waffenlobby bekannt ist, dies wäre früher ein No-go gewesen.

In der Mopo erschien gestern ein Kommentar des langjährigen St. Pauli-Reporters und Ex-Spieler Buttje Rosenfeld und dieser Kommentar ist so bemerkenswert und bezeichnend, dass ich gern daraus zitieren möchte.

„JD8: Traurig sieht die Mutti ein – ihr Sohn ist jetzt ein Rautenschwein.“Dieses Riesenplakat, das beim Nordderby in Kiel (1:2) von Fans des FC St. Pauli aufgehängt wurde, weil Kiezkicker Jeremy Dudziak (23) im Sommer zum HSV wechselt, hat mich fassungslos gemacht. Nicht nur als Journalist der MOPO, sondern auch als Mensch und Ex-Spieler dieses eigentlich großartigen Klubs. Eine derart bösartige Attacke gegen einen eigenen Spieler, in diesem Fall auch noch einen jungen und hochsensiblen, der beim Stadtrivalen bessere Perspektiven sieht, hatte es zuvor nie gegeben. Da werden bei mir Erinnerungen an vergangene Zeiten wach. (Quelle: Mopo.de)

Bei mir auch, denn so kannte ich das Millerntor nicht, aber das Volksparkstadion kenne ich so. Da, wo man ehemalige Spieler bei ihrem nächsten Besuch gern als Judas bepöbelt und Tage vor dem Spiel via Internet bedroht, weil sie eben keinen lebenslangen Uwe Seeler-Vertrag unterschrieben haben.  Ich denke dabei an Spieler wie Hakan Calhanoglu, aber auch viele viele andere.

Machten sich gegnerische Ersatzspieler warm, mussten sie sich anhören: „Auswechselspieler, ihr seid nur Auswechselspieler.“ Als Gegenspieler ausgewechselt wurden, begleiteten sie ihn mit „Du warst schlecht, du warst schlecht“ vom Rasen. Noch heute habe ich das Rasseln mit den Schlüsselbunden von Tausenden im Ohr, habe die vielen Pfennige, die den „Millionären“ des FC Bayern München vor die Füße geworfen wurden, vor Augen.  Als Bernd Hollerbach zum Beispiel die Seiten wechselte, hieß es statt „Ho-ho-Hollerbach“ nur noch „Ho-Ho-Hochverrat“ und an einigen Kiez-Kneipen hingen Hollerbach-Aufkleber mit der ironischen Hunde-Botschaft: „Ich muss leider draußen bleiben. (Quelle: Mopo.de)

Auch so war mir das Stadion auf dem Dom in Erinnerung. Witzig, kreativ, teilweise politisch. Wer erinnert sich nicht an das legendäre „Euch Uwe klaut“ Transparent, welches St. Pauli-Fans ins Volksparkstadion brachten? Ich stand damals auf der anderen Seite des Stadions und fand es geil, weil es stimmte. Aber es war halt witzig, provokativ und nicht gewalttätig, also nicht so wie der Rest.

Mit diesem Transparent provozierten Anhänger des FC St. Pauli Mitte der neunziger Jahre bei einem Derby die HSV-Anhänger im Volksparkstadion. Hintergrund waren Unregelmäßigkeiten und Provisionszahlungen bei Immobiliengeschäften an Jürgen Engel, der unter dem HSV-Präsidenten Seeler als Schatzmeister fungierte und den Ruf des HSV-Idols stark beschädigte. Seeler übernahm am 5. Oktober 1995 das Amt des HSV-Präsidenten und trat am 30. Juni 1998 zurück.

Überragend für mich ist die grundsätzliche Entwicklung außerhalb des Rasens: Der Kiezklub steht für Menschlichkeit in jeder Beziehung ein, bezieht politisch und gesellschaftlich klar Stellung, legt großen Wert auf Respekt. So wird am Millerntor auch immer die Hymne des Gegners gespielt, was lange einmalig war. (Quelle: Mopo.de)

Etwas, worauf ich als HSVer immer ein wenig neidisch war und teile dieser Gesinnung auch gern in meinem Verein gesehen hätte, wo in der Nordkurve während es Spiels zwischen dem HSV und dem VfB Stuttgart plötzlich wahlweise „Scheiß St. Pauli“ oder „Scheiß Werder Bremen“ georkt wird, zum Fremdschämen. Die Fans des Nachbarn machten vor, wie es geht. Mit Respekt gegenüber dem Gegner, mit Verarschung statt Gewalt, mit Genügsamkeit gegenüber dem Streben nach Geld.

Deshalb ist es verstörend, was sich zuletzt beim Hamburger Derby abgespielt hat. Da ist das mächtige Pyro-Spektakel noch das kleinste Problem: Eier- und Flaschenwürfe auf den HSV-Mannschaftsbus, das Bespucken und Bepöbeln der „Rothosen“-Profis, das brutale Niederrennen von Ordnungskräften, vollzogene und angedrohte Gewalt gegen Menschen aus dem eigenen Lager – meine Güte, was ist denn da bloß in euch gefahren? Das hat doch mit den Werten, auf die der FC St. Pauli so stolz ist, nichts mehr zu tun! Da wird nicht mehr der Schaumstoff-, sondern der Holzhammer eingesetzt. Statt des Floretts wird der Säbel geschwungen. Leichtigkeit und Witz sind überwiegend auf der Strecke geblieben, die Besucher der verschiedenen Tribünen singen viel zu oft gegeneinander, empfinden sich offenbar als Konkurrenten. (Quelle: Mopo.de)

Stimmt, das ist verstörend. Und es ist traurig, dass man zumindest bei Teilen der Fan-Gemeinschaft meint, man müsse sich an einem Verein wie dem HSV orientieren, anstatt das genaue Gegenteil anzustreben. Wenn die Anderen pfeifen, klatscht. Wenn die Anderen eure Mannschaft beleidigen, feiert den Gegner mit Sprechchören. Zeigt, dass ihr besser, dass ihr schlauer seid. Und zeigt eben nicht, dass ihr genau so laut pfeifen, genau so übel beleidigen und noch mehr Pyros anzünden könnt, wie die Anderen. Das hätten St. Paulianer früher gemacht, heute sind sie teilweise schlimmer als die HSV-Fans. Das ist bedauerlich und traurig, denn ich denke, dass besonders in Zeiten wie heute alternative Wege wichtiger denn je sind. Und durch nichts grenzt man sich besser von der Masse ab, als wenn man zeigt, dass man anders, besser ist.

Aber vielleicht transportieren die Menschen auf den Rängen auch nur das weiter, was ihnen das Führungspersonal des Vereins vorlebt. Trainer feuern, wenn man auf Platz 6 steht. Under Amour. Dümmliche Provokationen vor dem Stadtderby. St. Pauli ist nicht mehr das St. Pauli von vor 5 oder 10 Jahren und das sagt einer, der in der gleichen Strasse mit St. Pauli-Willy aufgewachsen ist und den komplett verrückten Vogel einfach nur crazy, aber geil fand. Ich befürchte, dass der Weg zurück zu dem St. Pauli, welches ich kannte, nicht mehr möglich sein wird, aber genau das St. Pauli wäre heute wichtiger denn je.