Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, da war es unendlich verpönt, sich in irgendeiner Art und Weise rassistisch zu äußern. Als Kind in den 70er oder als Jugendlicher in den 80ern war mir so etwas wie Rassismus fremd und das mag die unterschiedlichsten Gründe habe. Zum Einen hatten wir in diesen Zeiten deutlich weniger ausländische Mitbürger oder Nachbarn mit Migrationshintergrund, zum Anderen lagen die Greueltaten des Nazi-Regimes „nur“ knappe 30 Jahre zurück und zumindest ich hatte das Thema Nationalsozialismus während meiner Zeit auf dem Gymnasium Oldenfelde mindestens 7 Mal zwischen der 5. und der 13. Klasse. Umso mehr bin ich heute darüber erschüttert und betrübt, dass Äußerungen, für die man während meiner Kindheit noch auf dem Polizei-Revier gelandet wäre, heute mehr oder weniger salonfähig geworden sind. Es ist das alte Prinzip: Wenn ich eine schlechte Sache nicht im Keim ersticke, breitet sie sich aus. Es gibt einfach zu viele außerordentlich dünn angerührte oder extrem ungebildete Zeitgenossen unter uns, die die Dimensionen nicht einmal im Ansatz umreißen. 

Umso wichtiger ist es, radikal gegen alles vorzugehen, was sich in diese Richtung bewegt, insofern kann ich auch nur jede Handlung oder jedes geäußerte Vorhaben unterstützen, die diese Keimzelle des Widerwärtigen ausrottet. 

Dieter Hecking hat ein bemerkenswertes Statement gegen Rassismus abgeben. Sollte einer seiner HSV-Spieler von Zuschauern in einem Fußball-Stadion rassistisch beleidigt werden, käme für den Trainer infrage, den Platz als symbolische Geste sofort zu verlassen.

„Ich wäre als Cheftrainer dafür, ein deutliches Zeichen zu setzen.  Es kann durchaus sein, dass ich die Mannschaft dann vom Platz holen würde“, sagte Hecking am Donnerstag, ohne zu wissen, welche Konsequenzen das für den Verein haben könne.

Richtig so, Herr Hecking. Es sollten sich alle Trainer und alle Verantwortlichen darauf verständigen, diesem Beispiel zu folgen, man kann gar nicht energisch genug dieser kaputten Keimzelle des Rassismus entgegentreten. Aber: Ich kann nicht umhin, auf die Begleitumstände zu verweisen, denn ganz so einfach gestaltet sich die Geschichte nicht. „ohne zu wissen, welche Konsequenzen das für den Verein haben könne“. Denn dies ist nach wie vor ungeklärt und lässt Raum für so gut wie jede Spielart und leider auch für nahezu jede Art der Manipulation, insofern könnte sich eine an und für sich gute Absicht buchstäblich pervertieren lassen. 

Mal angenommen, der HSV spielt in Aue und liegt nach 87 Minuten mit 0:2 hinten. Plötzlich erklärt Gideon Jung, dass er während der Ausführung eines Eckballs rassistisch beleidigt wurde. Irgendjemand hätte hinter ihm Affenlaute von sich gegeben oder das N-Wort benutzt. Jung teilt dies seinem Kapitän van Drongelen mit, dieser geht zu Hecking und dieser holt die Mannschaft vom Platz. Was dann? Normalerweise wird das Spiel dann abgebrochen und mit Null Punkten und 0:3 Punkten zum Nachteil des Vereins gewertet, der für den Abbruch verantwortlich war. Da es meines Wissens noch keine Rechtsprechung bzgl. dieses Themas gibt, ist wohl der Fall „Abbruch bei Gewaltausschreitungen“ am naheliegensten.

Gibt es bei Gewaltausschreitungen Besonderheiten?
Ja, denn bei Gewaltausschreitungen wird das Sportgericht eingeschaltet. Auch hier dient der Sonderbericht des Schiedsrichters als Entscheidungsgrundlage, da der Unparteiische als objektiv angesehen wird. Nach den Stellungnahmen der Vereine muss das Sportgericht die Verantwortlichkeit der Gewaltausschreitung ermitteln. Das Spiel wird dann mit 0:3 gegen den schuldigen Verein gewertet.

Okay, es wird also der Bericht des Schiedsrichters als ausschlaggebend angesehen. Wenn nun aber der Schiedsrichter weder die Affenlaute noch das N-Wort selbst gehört hat? Und wenn er es gehört hat, aber nicht zuordnen kann, welchem Spieler von welchem Verein dies gegolten haben soll. Was dann? Was, wenn außer Gideon Jung all das niemand anderes gehört hat? Ist der Spieler dann in der Beweispflicht? Anderes Beispiel.

Der HSV braucht am 34. Spieltag noch einen Punkt, um den direkten Aufstieg zu sichern. Gegen Sandhausen steht es kurz vor dem Abpfiff 3:1 für den HSV, Sandhausen braucht noch 3 Punkte, um die Klasse zu halten. In der 86. Minute hört ein Spieler des SSV plötzlich aus der Nordkurve eine rassistische Beleidigung, der Unparteiische hört es ebenfalls. Der Spieler „nutzt“ die Gelegenheit., informiert seinen Trainer und dieser holt das Team vom Platz. Aus dem Spielbericht des Schiedsrichters geht hervor, dass es Hamburger „Fans“ waren, die sich zu dieser kranken Aktion haben hinreißen lassen (oder vielleicht der „Fan“ eines anderen Vereins, der sich in die Nordkurve geschlichen hat), das Spiel wird daraufhin vom DFB-Sportgericht mit 3:0 für Sandhausen gewertet. Folge: Sandhausen bleibt in der 2. Liga und der HSV steigt nicht auf. Weitere Folge: Hecking und Boldt werden gefeuert, Hoffmanns Vertrag nicht verlängert. Will mir ernsthaft jemand erzählen, dass das nicht passieren könnte?

Geht aber noch weiter. Wettmanipulation. Was würde passieren, wenn Spieler (und Trainer) selbst entscheiden können, ob und wann ein Spiel beendet ist? Ab wann ist etwas eine rassistische Beleidigung? Können nur farbige Spieler rassistisch beleidigt werden oder könnte Tim Leibold betreten vom Platz gehen, weil ihn ein Zuschauer in Aue als „beschissenes Weißbrot“ oder „du fiese Nazisau“ bepöbelt hat? Wo zieht man die Grenzen? Für all das gibt es noch längst keine gültige Rechtsprechung und auch keine Idee, wie man im Extremfall damit umgehen würde. Insofern ist es natürlich leicht gesagt und zur Zeit außerordentlich populär, mit Sprüchen wie dem von Herrn Hecking hausieren zu gehen und es ist im Prinzip auch mehr als richtig, energisch gegen jegliche Form von Rassismus vor zu gehen, aber ganz so einfach wie sich die Kollegen das gerade vorstellen, ist es dann doch nicht. 

Und es geht noch weiter. Antonio Rüdiger vom FC Chelsea ist einer derjenigen, die ihre Stimme aus lautesten erheben und ich finde es absolut großartig, wie der deutsche Nationalspieler damit umgeht. Aber: Was passiert, wenn Rüdiger demnächst in der 41 Minute vom Platz geht, weil er die rassistischen Anfeindungen der „Fans“ aus Leicester nicht mehr länger erträgt? Er wird durch einen anderen Spieler ersetzt. Und wenn er das Gleiche im nächste Spiel wieder macht? Und im übernächsten? Wird nicht irgendwann sein Trainer sagen, dass es ihm zu risikoreich ist, den Spieler in die Startelf zu stellen? Dann hätte Rüdiger seinen Stammplatz verloren, weil er für seine Überzeugung eingetreten ist. Und irgendwann wird ihn Chelsea verkaufen, weil dem Verein ein Spieler, der immer nur 30 Minuten spielen kann, bevor er vom Platz geht, zu teuer ist. Welcher Profi wird also am Ende seine Karriere für seine Ideale riskieren? Ist es dann nicht eigentlich so, dass die eigentlich Arschlöcher gewonnen haben, weil sie es schaffen, Spiele zu beeinflussen und vielleicht Karrieren zu beenden? Wäre es nicht vielleicht wirkungsvoller, den Rassisten den Mittelfinger zu zeigen und so zu demonstrieren, dass man sich von Primaten nicht kleinkriegen lässt? 

So oder so, die Verbände und Vereine werden nach einer Lösung suchen und diese finden müssen, denn die Spieler darf man mit diesem Problem nicht alleinlassen. All das interessiert aber gerade mal wieder nicht, weil sich jeder, der eine sportliche Krise zu bewältigen hat, bemüßigt fühlt, auf den nächsten Zug aufzuspringen. Gerade kann man (mal wieder) viele Punkte machen, wenn man dem Mainstream folgt. Erst war es der moralische Herr Jatta/Daffeh, vor Kurzem der Schriftsteller Klinsmann, den man an die Wand klatschen kann, nun ist es die radikale „Ich-hole-die-Mannschaft-vom-Platz-Idee“. Anstatt eine Idee, ein Verhalten, einen Umstand erst einmal zu Ende zu denken, werden vorschnelle Parolen in den Orbit gerotzt, denn man muss die Punkte, die zu verteilen sind, schnell holen. Morgen kann es zu spät sein, dann waren eventuell andere schneller. Also: Erst labern, dann denken. Aber was wundert es, schließlich rennt man damit bei 90% der Fußball-Anhänger offene Türen ein.