Mal angenommen, wir befinden uns auf der „HMM Algeciras“, dem momentan größten Containerschiff der Welt. Mit einer Länge von 399,90 Metern und einer Breite von 61 Metern kann das Ding mehr als 24.000 Container laden und transportieren. Nehmen wir mal an, dieses gigantische Schiff mit seiner Besatzung aus mehr als 300 gut bezahlten Matrosen fährt die Strecke von Southampton nach New York und muss entsprechend durch den Nord-Atlantik, eine Strecke, auf der man durchaus dem einen oder anderen Eisberg begegnen könnte. Nun ist die „HMM Algeciras“ exzellent ausgerüstet und im Unterhalt ein überaus teures Fahrzeug, aber dieses Schiff hat ein entscheidendes Problem: Es hat keinen Kapitän. Dieser wurde nämlich durch eine Meuterei während einer der letzten Fahrten von einer Allianz aus Steuermann und Leitendem Ingenieur abgesetzt, in Ketten gelegt und von Bord gebracht. Auf die Frage der Reederei, ob dies denn sinnvoll wäre, antworteten die Meuterer: „Wir können das Schiff in Zukunft auch problemlos allein abwickeln, ist ja eh fast alles automatisiert“. Gesagt, getan. Die aktuelle Reise führt, wie gesagt, von England in die USA und alle fühlen sich richtig wohl ohne diesen Kapitän, der ständig Höchsleistung und permanente Konzentration fordert und der durchaus auch einmal ungemütlich werden kann. 

In einer mondlosen Nacht, irgendwann am 14. April, meldet das Radar eine Kollisionswarnung mit einem Eisberg-Riesen, der unmittelbar auf der Route des Containerschiffs treibt. Der Steuermann erhält die Alarmmeldung, aber er beschließt, erst einmal nicht zu handeln, denn es könnte sein, dass dies seine letzte Fahrt auf der „HMM Algeciras“ ist. Heimlich, still und leise befindet er sich in Verhandlungen mit einer römischen Reederei, dort soll er angeblich als Kapitän ein Kreuzfahrtschiff übernehmen. Er selbst weiß genau, dass die Aussichten, diesen Job zu bekommen, gleich Null sind und deshalb erzählt er die Geschichte, natürlich unter dem Mantel der Verschwiegenheit, ständig in der Offiziersmesse herum. Seine Hoffnung: Irgendein Kollege, der den Mund nicht halten kann, verbreitet die römische Geschichte in der Reederei, die Herren dort bekommen Angst, den weltbesten Steuermann zu verlieren und befördern ihn zum Kapitän. Wenn er jetzt eine überhastete Kursänderung befehlen würde, könnte man ihm das bei seinem Arbeitgeber negativ auslegen. Man könnte denken, er hätte die Nerven verloren, außerdem würde ein Umweg die Reederei eine Menge Geld kosten. Also – warten wir doch erstmal ab.

Der Leitende Ingenieur schläft zum Zeitpunkt des Eintreffens der Alarmmeldung. Er selbst fährt bereits seit 7 Jahren auf der „HMM Algeciras“ und er weiß, dass er nie wieder einen ähnlichen Job kriegen würde, sollten für ihn hier einmal die Lichter ausgehen. Irgendwann mitten in der Nacht klopft es an seine Kabinentür und einer der 300 hochbezahlten Matrosen erklärt dem LI die Situation. Seine erste Frage: „Was sagt denn der Steuermann dazu?“. Die Antwort: „Im Moment nichts, er will erstmal abwarten“. Okay, denkt sich der Leitende Ingenieur, dann warten wir mal ab. Soll er doch die Entscheidung treffen, schließlich bin ich hier nur der LI, für die Maschinen etc. zuständig und nicht für den Kurs. Und wenn dann einer den Fehler macht, will ich es nicht gewesen sein. Plötzlich meldet sich der Steuermann per Schiffsfunk bei ihm, erklärt ihm die Situation und fragt, was er denn machen würde. Die Antwort des LI: „Die Maschinen laufen einwandfrei, wir machen 34 Knoten Fahrt, alles andere ist nicht meine Aufgabe. Was denken sie?“ Der Steuermann überlegt: „Das Schiff liegt gut im Wasser, hält stabil den Kurs, wir könnten in zwei Tagen in New York sein. Alles andere gehört nicht zu meinen Aufgaben“. Um 23.40 Uhr rammt die „HMM Algeciras“ den Eisberg. 

Glück im Unglück, der Container-Riese sinkt nicht, er ist jedoch stark beschädigt. Schwer leckgeschlagen gelingt die Rückkehr nach Southampton, hier werden die Ausmaße der Schäden erst deutlich, das Schiff ist im Grunde ein Wrack. Die Reederei-Eigner verkaufen einen Teil ihrer Gebäude an die Stadt Southampton, aber mit den Einnahmen ist das Schiff nicht zu reparieren. Man beschließt, die „HMM Algeciras“ weiter zu betreiben, aber nicht mehr auf den großen Routen, sondern nur noch für den Küstenverkehr, dies würde mit den notdürftigen Reparaturen gehen. Auch kann man keine 24.000 Container mehr bewegen, sondern nur noch 4.000. Dies hindert die Bosse der Reederei jedoch nicht daran, sowohl den Steuermann, wie auch den Leitenden Ingenieur und auch die 300 gut bezahlten Matrosen weiterhin zu beschäftigen, obwohl dies bedeutet, dass das Schiff jedes Jahr ein erhebliches Minusgeschäft darstellt. Auch hat man nie daran gedacht, einen Nachfolger für den weggemeuterten Kapitän zu ernennen, denn der würde eventuell den Frieden und die gute Stimmung auf dem Schiffswrack gefährden. Aber warum nicht? Nun, die Erklärung ist relativ einfach: Die Aufsichtsräte der Reederei spielen mit dem Steuermann und dem LI regelmäßig Golf, außerdem sind die Ehefrauen befreundet. Währenddessen rostet die ehemalig stolze „HMM Algeciras“ vor sich hin und wartet darauf, in den nächsten 3 Jahren endgültig abgewrackt und zu Altmetall verarbeitet zu werden. Die Reederei ist ohnehin schon auf dem Weg zum Insolvenzverwalter. 

P.S. Um das Unglück komplett bzw. erst möglich zu machen, lagen die zahllosen Fehler nicht nur an Bord der „HMM Algeciras“, denn an Land wurden diese Katastrophen noch begünstigt. Den Aufsichtsrat der Reederei leitete ein ehemaliger Heizer des Container-Riesen, der Mann war selbst jahrelang auf dem Schiff gefahren, war aber mehr durch zahllose Krankheitstage denn durch überdurchschnittliche Leistungen aufgefallen. In der Mannschaftsmesse war er nur als „Mr. Gelber Schein“ bekannt und groß war das Gelächter, als er zuerst den Vorstand der Reederei und später den Vorsitz im Aufsichtsrat übernahm, das berühmte Bock/Gärtner-Prinzip. Natürlich hatte der Ex-Heizer nicht den blassesten Schimmer davon, wie man ein Schiff zu lenken, anzutreiben und schon gar nicht zu befehligen hat, aber immerhin machte er in der „feinen Gesellschaft“von Southampton auf sich aufmerksam, als er ein Pflegeprodukt für Hämorrhoiden-kranke Vierbeiner auf den Markt brachte. 

P.P.S. Sie fragen sich nun, warum die britischen Medien über all diese Vorkommnisse nicht berichteten bzw. erst dann berichteten, wenn die Schäden nicht mehr zu übersehen waren? Ganz einfach, weil sie von der Reederei bezahlt und von den Meuterern und dem Ex-Heizer regelmäßig mit „brandheißen“ Informationen versorgt wurden. Ehrlich, niemand sägt doch wohl den Ast ab, auf dem er sitzt, oder? Und die Frage nach Berufs-Ethos oder der Verpflichtung zur Wahrheit? Alles Legenden aus längst vergangenen Zeiten. Irgendwann werden sich einmal die Enkel derer, die die jahrelangen Fehlverhalten, Vertuschungen und Intrigen bis aufs Blut verteidigt haben, darüber freuen, auf den Resten des abgetakelten Wracks spielen zu können. Für sie wird der ehemalige Stolz der einst ruhmreichen Reederei nichts anderes sein als eine Ruine, ihre Väter und Großväter jedoch werden von all den Ereignissen der Vergangenheit nichts gewusst haben und ihre Hände in Unschuld waschen. 

Eisberg voraus!