Per Hecht in den Knast

Irgendwie geht mit Boris Becker meine Jugend in den Knast. Bei Boris Becker habe ich aber noch die Hoffnung, dass er wieder zurückkehrt. (Unbekannt)

Es war der 7. Juli 1985, ich war 20 Jahre alt. In diesem Sommer änderte sich nicht nur in Hamburg die Welt für einen begeisterten Tennisspieler, in ganz Deutschland änderte sie sich, vielleicht sogar in der ganzen Welt. Denn in einem Alter, in dem man nicht einmal in der damaligen BRD Alkohol kaufen oder gar ein Auto fahren durfte, gewann Boris Becker, der siebzehnjährigste Leimener aller Zeiten, das größte und bedeutenste Tennisturnier der Welt. Auf dem Center Court im Londoner Stadtteil Wimbledon schrieb ausgerechnet ein deutscher Teenie Sportgeschichte und ein Nest aus der Nähe von Heidelberg erlangte Bedeutung. Ich kann mich noch gut an diesen Tag erinnern, er fühlte sich irgendwie so an wie der 7. Juli 1974, als Deutschland in München gegen Holland Fußball-Weltmeister wurde und er muss sich für frühere Generationen angefühlt haben wie der 4. Juli 1954 in Bern oder der 12. Juni 1930, der Tag, an dem Max Schmeling Boxweltmeister im Schwergewicht wurde. Die BILD titelte am 20. April 2005 völlig albern “Wir sind Papst”, aber tatsächlich fühlt man sich in solchen Momenten als Teil von etwas Größerem, selbst wenn der Verstand sagt, dass es am Ende doch nur Sport oder eben eine Papstwahl ist und Patriotismus keine Paradedisziplin des deutschen Michels ist und sein darf.

Was danach folgte waren Jahre des sportlichen Rausches, natürlich auch dadurch bedingt, dass eine junge Deutsche, die zufälligerweise nur 16,9 km vom neuen deutschen Megastar entfernt lebte, zur gleichen Zeit ebenfalls das Welttennis aufmischte. Nahezu gleichalt, hatte ein Land etwas, was es in dieser Form noch nie hatte – ein sportliches Traumpaar. In den drauffolgenden Jahren wurden zahllose Titel gewonnen und dutzende Schlachten geschlagen. Ich kann mich an die Schlacht von Hartford gegen McEnroe erinnern, über 6 Stunden. Sagenhafte Matches gegen Edberg, Sampras, Lendl und auch gegen meinen späteren Nachbarn Michael Stich, der wahrscheinlich sogar der deutlich talentiertere Spieler war, der aber nicht den gleichen Biss und die gleiche Besessenheit mitbrachte. Außerdem war er als Norddeutscher den Medien irgendwie zu verkopft und schlechter zu verkaufen, was wohl auch an der spröden Austrahlung lag, Norddeutscher eben. Doch schon als aktiver Tennisheld zeichneten sich Tendenzen in Beckers Leben ab, die nun im Londoner Urteil final betraft wurden. Diverse Frauen, diverse Kinder, Besenkammern und Skandale und während die sportlichen Erfolge weniger wurden, erhöhte sich die Anzahl der Peinlichkeiten. Vieles davon hätte sich das Ex-Bobbele verkneifen sollen, er hat es nicht getan.

Wenn man nach den Gründen sucht, wird man nur schwer vollumfänglich fündig. Sicher ist Bumm-Bumm Boris nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber man macht garantiert keine Fehler, wenn man auch mangelnde Bildung, falsche Berater, ein gieriges Elternhaus und selbstverständlich den medialen Hype einbezieht, dem sich ein Teenie wahrscheinlich nur schwer entziehen kann. Besonders die schadenfreuenden Kritiker sollten sich an dieser Stelle fragen, was sie an Beckers Stelle gemacht hätten, wenn all das über sie hereingebrochen wären, während sie selbst noch nicht einmal wählen durften. Der erste Stein und so. 

Nun wurde der einstige deutsche Held, der inzwischen leider aussieht wie seine eigene Karrikatur, wegen Insolvenzbetrugs zu 2 1/2 Jahren Zuchthaus ohne Bewährung verknackt und was in den 80er Jahren möglicherweise zu einem deutsch-englischen Krieg geführt hätte, ist heute fast schon Alltag. Denn Becker ist ja nicht allein mit seiner Ignoranz, seiner kriminellen Energie und seinem Lebens-Verständnis, dass für ihn andere Regeln gelten würden als für den Rest von uns. Aber erneut – man sollte auch an dieser Stelle sich selbst hinterfragen: Wie hätten man selbst reagiert, wenn man noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, von deutschen Bundespräsidenten hofiert, vom deutschen Tennisbund zum Aushängeschild erkoren und von der gesamten Weltprominenz auf Facebook Freundschaftsanfragen bekommen hätte, hätte es dergleichen damals schon gegeben? Wenn man in den Restaurants immer den besten Platz ohne Reservierung bekommen hätte? Wäre man selbst dann cool geblieben, hätte die Schule beendet und sich in der Öffentlichkeit wie ein normaler Mensch verhalten? Ich denke, dass dies für 99% von uns eine überaus interessante Herausforderung gewesen wäre.

Wohl kaum ein Land auf diesem Planeten ist so versessen darauf, seine Helden zu schlachten und zu demütigen, wenn es der Meinung ist, sie nicht mehr zu brauchen. Vielleicht sollte man in Zukunft etwas weniger hypen, dann muss man später auch nicht mehr so hart nachtreten. 

Nichtsdestotrotz ist Becker straffällig geworden und muss nun akzeptieren, dass inzwischen die Gesetze für ihn genauso gelten wie für Uli Hoeness, Graciano Rocchigiani, »Bubi« Scholz und Peter Graf. Ich möchte nicht behaupten, dass die Medien und die Gesellschaft hauptverantwortlich für die Entwicklung des Ex-Tennisspielers Boris Becker waren, aber ihren Einfluss sollte man auch nicht außer acht lassen. Sollte man nun Mitleid mit dem ehemaligen Idol haben? Ehrlich, ich bin zwiegespalten. Mit dem 17-jährigen Talent mit dem unfassbaren Willen und dem Hang zur Selbstkasteiung habe ich durchaus Mitleid, mit dem über 50-jährigen Boris B. definitiv nicht. Der Mann hatte nun mehr als 25 Jahre Zeit, erwachsen zu werden, aber den Weg aus seiner Prominenten-Blase hat er nicht geschafft und es wohl auch nie versucht. Interessant und wichtig wird es sein, zu beobachten, wer auch in diesen Zeiten zu ihm stehen wird und wer ihn nach Ablauf seiner Haftstrafe unterstützen wird. Denn Hilfe wird der Mann brauchen. Viel Hilfe und nicht nur finanzielle. 

P.S. Guck mal, Kotzminus, heute ist der 1. Mai und ich schreibe immer noch. Du dagegen bist Geschichte, du verkackter Wicht 😀 

Von | 2022-05-19T23:43:02+02:00 1. Mai 2022|Allgemein|7 Kommentare

7 Comments

  1. Hans 1. Mai 2022 um 08:39 Uhr

    .. da geht Münchhausen mit seiner Insolvenz etwas cleverer um, und nicht noch einen Tag vor der Urteilsverkündung im Harrods ( in den Alsterarkaden) shoppen..

    • Gravesen 1. Mai 2022 um 09:05 Uhr

      Da gehört schon Mut dazu, die Worte “Münchhausen” und “clever” in einem Satz zu verwenden.

  2. Hannover1958 1. Mai 2022 um 09:09 Uhr

    Hat jetzt nichts mit dem Blog vom heutigen Tage zu tun, aber mir fiel eine verblüffende Parallele ein, die sich in den 80ern zugetragen hat:
    Der KSV Hessen Kassel belegte zwischen den Saisons 82/83 bis 84/85 dreimal hintereinander den 4. Platz in der zweiten Liga. 85/86 reichte es nochmal zum 5. Platz, während man 86/87 als 19. den Gang in die damalige Oberliga antreten musste. 89/90 spielte man noch mal ein Jahr zweite Liga, danach der Absturz mit der Insolvenz 98/99. dann ging’s in der Kreisliga A wieder von vorn los. Jetzt spielt man Regionalliga.

  3. Demosthenes 1. Mai 2022 um 11:42 Uhr

    Off topic: RIP Mino Raiola

    • Der Greif 1. Mai 2022 um 18:03 Uhr

      Nein, wirklich nicht.

  4. ausgegliedert 1. Mai 2022 um 12:42 Uhr

    Das war ein tolle Zeit damals.
    Ich wohne zwischen Brühl und Leimen und man fühlte sich seinerzeit noch symbadischer.

    Ob der unterschiedliche Lebenslauf der beiden untrennbar mit Peter Graf bzw. Ion Tiriac zusammenhängt wäre sicher einer längeren Dokumentation würdig.

    Der heutige Fußballnachwuchs hat in größeren Vereinen Internate und Medienberater, die neben dem eigenen Umfeld unterstützen können.
    Warum das beim HSV nicht professionell wirkt, wissen hier vermutlich alle.

  5. Ex-HSVer im Herzen 2. Mai 2022 um 02:00 Uhr

    Sehr schöner Blog! Boris ist das Opfer von gierigen und opportunistische Menschen um ihn herum geworden. Das fing in dem Moment an, als er den bodenständigen und bescheidenen Günther Bosch entlassen hat, weil er es gewagt hat ihn noch ein wenig erziehen zu wollen (Boris war gerade mal 19 Jahre alt). Das was nach seiner Karriere folgte ist ganz einfach der Tatsache geschuldet, der viele erliegen: man kommt mit allem durch. Siehe Steuerhinterziehung 2003. Wirklich etwas gemerkt hat er davon nicht als Strafe. Vielleicht erlangt er jetzt die notwendige Reife,

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